Die Berliner Eckkneipe als Kulturgut verschwindet

In München eröffnete vor einigen Wochen der erste alkoholfreie Biergarten und zeigt damit, dass Bier und sein gemeinschaftlicher Konsum im starken Wandel stehen. Die Berliner Eckkneipe als Kulturgut ist ein ganz ähnliches Phänomen: In der Zeit der industriellen Revolution ein vielgenutzter Rückzugsort, steht sie heute nicht zuletzt auch wegen steigender Mieten und geändertem Konsum vielerorts vor dem Aus.

Die Molle, wie Berliner ihr Bier liebevolle nennen, wird heute immer seltener in einer Kneipe konsumiert. Gerade in Berlin, dass seit mehr als 200 Jahren hauptsächlich proletarisch geprägt war, erfüllte die typische Eckkneipe eine wichtige Funktion: Sie war Rückzugsort und Wohnzimmer für all diejenigen, die in Ruhe ein oder zwei oder auch drei Bierchen trinken wollten. Doch die Berliner Eckkneipe als Kulturgut ist in Gefahr. Einerseits fehlen die Gäste, andererseits steigen die Mieten rasant. Die Wirte haben immer größere Schwierigkeiten wirtschaftlich profitabel zu agieren oder verlieren zusätzlich ihre günstigen Mietverträge.

Schultheiss feiert die Kiezkneipe

Es gibt durchaus Bemühungen in Berlin, die typische Eckkneipe wieder mit Leben zu füllen und unter jungen Leuten und auch Touristen beliebter zu machen. Allen voran bemüht sich die Berliner Brauerei Schulheiss darum, ihre Wirte im besten Licht zu präsentieren. So hat sie bereits 2013 die Aktion Kiezkneipe gestartet, die wieder Lust machen soll den typischen Berliner Charme und die spezielle Gastfreundschaft der Hauptstädter zu erfahren. Verantwortlich zeichnet für die Aktion die Berliner Niederlassung der Agentur Scholz & Friends. Sogar Urgestein Frank Zander konnte als Botschafter für die Kiezkneipenkultur gewonnen werden. Er erklärte sein Engagement unter anderem 2020 im Zuge der Coronapandemie in der Brauwelt so: „Mir liegt es am Herzen die Wirte zu unterstützen, nicht zuletzt, weil ich natürlich selber gerne ein frisch gezapftes Bier gemütlich mit Freunden trinke!“ Auf einer Website der Brauerei Schultheiss können sich Interessierte über unterschiedliche Kiezkneipen informieren um zu erfahren, welches Angebot sie dort erwartet. Auch das Stadtmagazin TIP Berlin gibt seinen Lesern Informationen, in welchen historischen Kneipen Berlins bereits seit mehr als 100 Jahren getrunken wird. Ob diese wirklich dem typischen Berliner Eckkneipen-Charme gerecht werden ist natürlich nicht bewiesen, aber man merkt bereits, dass Berlin durchaus stolz ist auf seine einzigartige Eckkneipenkultur. Dennoch werden alle Bemühungen wohl nichts nützen: Die Berliner Eckkneipe als Kulturgute verschwindet nicht zuletzt, da sich der Konsum von Bier bzw. Alkohol im Allgemeinen in der Gesellschaft wandelt.

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Berlin als Arbeiterstadt Anfang des 20. Jahrhunderts

Wenn man das Phänomen der Berliner Eckkneipe als Kulturgut verstehen möchte, muss man zurück blicken in die Zeit der Industriealisierung Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts. Berlin war zu diesem Zeitpunkt das größte Industriezentrum Deutschlands, was vor allem am Maschinenbau wie der Firma Borsig und der Elektroindustrie mit Siemens und AEG lag. Auch die Bauwirtschaft, die Nahrungsmittelindustrie und die Bekleidungsherstellung boomten in Berlin. Selbst nach dem Ende des 1. Weltkriegs änderte sich daran nichts. 1936 lebten in Berlin 574.000 Beschäftige im produzierenden Gewerbe – in absoluten Zahlen also mehr als damals in Württemberg, Baden und Thüringen zusammen. Die Stadt war voll mit Arbeitern, die oft sehr beengt in kleinen Behausungen wohnten. In diesem gesellschaftlichen Schmelztiegel übernahmen die Berliner Eckkneipen als Kulturgut eine zentrale Rolle: Sie wurden zum Rückzugsort, an dem man seine Ruhe hatte oder auch neue gesellschaftliche Kontakte knüpfen konnte. Man erhielt für kleines Geld ein nahrhaftes Essen und der Zapfhahn stand eigentlich nie still. Die Atmosphäre war rau aber herzlich, willkommen war jeder und am Tresen wurden gesellschaftliche Unterschiede vergessen.

Die Berliner Eckkneipe als Kulturgut verschwindet

Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg verändert sich Berlin gesellschaftlich extrem. Durch den Krieg waren fast 3/4 aller Maschinen zerstört, die Stadt wurde in Folge des Kalten Krieges unter den Siegermächten geteilt, zeitweise belagert und mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 schlussendlich final in zwei Städte geteilt. An industrielle Glanzzeiten konnten weder West- noch Ostberlin wieder anschließen, dennoch blieb Westberlin als durch die Alliierten kontrollierte Zone bis zur Wiedervereinigung 1990 ein spezieller Ort, an dem sich Kunst, Kultur und bisweilen auch Aussteiger aus dem kapitalistischen System der BRD tummelten. Die Eckkneipe bliebt vielerorts ein beliebter Treffpunkt für die hippe und junge Berliner Szene. Gerade in den Randbezirken, die an die Mauer grenzten, blieben die Mieten weiterhin günstig und die Gesellschaft divers und proletarisch geprägt. Die Berliner Eckkneipe als Kulturgut brachte weiterhin alle zusammen: Die Intellektuellen, die Künstler, Geschäftsleute und auch Arbeiter, sie alle fanden am Tresen einen Ort der Geselligkeit oder eben einen Platz, an dem sie so sein konnten, wie sie wollten. Erst die Wiedervereinigung machte aus der geteilten Stadt Berlin wieder eine Hauptstadt der Bundesrepublik. Außenbezirke waren plötzlich Top-Wohnlagen, immer mehr Industrie, gerade im Bereich Dienstleistungen, zog es in die Stadt. Der Beginn des Aufstiegs Berlins zur Weltstadt war auch der Beginn des Untergangs der Berliner Eckkneipe als Kulturgut.

Die Berliner Eckkneipe als Kulturgut ist einzigartig

Schriftsteller Clemens Füsers hat bereits drei Bücher über die Berliner Eckkneipe als Kulturgut geschrieben und vertritt die Idee, die Berliner Kneipenkultur als UNESCO-Weltkulturerbe schützen zu lassen, bevor sie vollständig verschwunden ist. Die Kneipenkultur und die klassische Berliner Eckkneipe gibt es laut Füsers in dieser Form weltweit nur in Berlin, um den Hamburger Hafen herum sowie im Ruhrgebiet. In München beispielsweise finde man sie nicht, denn München war historisch gesehen niemals proletarisch geprägt. Die Kneipe war zu Zeiten der Industrialisierung ein Ort der Erholung, fernab der überfüllten Mietskasernen. Nach dem Krieg wuchs der Wohlstand in der Bundesrepublik und wer im Wohlstand lebt, der braucht kein billiges Bier mehr, keine Soleier oder Vitamine aus der Bier-Zitrone, so Füsers in einem Artikel des Magazins Fluter. So ist es folglich auch zu erklären, weshalb das Kneipensterben in Berlin weitergeht und auch im Jahr 2024 immer noch für Schlagzeilen sorgt, so wie die Schließung der Kiezkneipe „Stadtklause“ Mitte des Jahres. Betroffen sind Stammgäste und Verfechter der Berliner Kneipenkultur allemal, wirklich etwas dagegen tun können sie meist aber nicht. Selbst wenn sich eine Kneipe mit guten Umsätzen brüsten kann, sorgen horrende Mieten in Toplagen oder die Kündigung des Mietvertrages im Gewerbebereich für den Todesstoß.

Bier wird langfristig zum Genussmittel

Seit Jahren sinkt der Bierkonsum und auch weltweit sinkt zeitgleich die Bierproduktion. Großbritannien, die USA, Polen und Deutschland führen die Liste des Rückgangs an. Auch der Konsum ist laut Deutschem Brauereibund rückläufig, nur noch knapp 92 Liter trank jeder Deutsche durchschnittlich – egal ob Kind oder Greis – im Jahr 2022. Bier scheint oft nicht mehr zeitgemäß zu sein, es wird grundsätzlich immer mehr auf alkoholische Getränke verzichtet. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung revidierte zuletzt sogar ihre Aussage in Bezug auf Alkohol und spricht davon, grundsätzlich besser vollständig auf den Konsum zu Verzichten. Steht das Bier und die Kneipenkultur folglich vor dem Aus? So dramatisch ist die Lage sicherlich nicht, dennoch müssen sich Brauereien, Getränkehandel und auch klassische Kneipen der Herausforderung stellen. Günstiges Bier als Konsummittel wird nicht mehr so stark nachgefragt, Bier als Genussmittel jedoch schon. Neue Variante mit und ohne Alkohol, die einen Moment oder Anlass aufwerten, sind inzwischen immer gefragter. Craft Beer-Sorten, saisonale Biervariationen oder spezielle Gebinde oder Aktionsware werden beim Konsumenten immer beliebter, so wie beispielsweise unsere Minikegs zur Fußball-EM 2024 in Deutschland. Regionale Brauereien schaffen es durchaus mit neuen Sorten auch die junge Kundschaft zu begeistern. Und vielleicht braucht es in Ballungsräumen auch den Schutz von Traditionskneipen, damit Langfristig die Chance besteht, die Berliner Eckkneipe als Kulturgut und die urige Gastfreundschaft der Arbeiterviertel dieser Republik auch für die nächste Generation zu bewahren.

Bildquelle Fotonachweis:

Titelfoto: Manfred Heyde, 10. Juni 2013, Eckkneipe in der Donaustraße im Bezirk Neukölln von Berlin/Deutschland
Artikelfoto: Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei GmbH