Nachwuchsforscher entschlüsselt das älteste Bier Deutschlands

Als Lebensmittelchemiker hat Stefan Pieczonka eine analytische Strategie entwickelt, um den „molekularen Fingerabdruck“ von Bieren sichtbar zu machen. Für seine Dissertation erhielt er zuletzt auf dem Deutschen Brauertag den Henrich-Funke-Pschorr-Preis. Im Rahmen seiner Forschungsarbeit hat der 29-Jährige rund 500 Biere analysiert, darunter auch „das älteste Bier Deutschlands“ aus dem Jahr 1885. Uns hat er nicht nur verraten, wie es schmeckt, sondern auch, welchen Nutzen die Brauwirtschaft aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen langfristig ziehen kann.

Wie schmeckt eigentlich „das älteste Bier Deutschlands“? Diese Frage bekam Stefan Pieczonka zuletzt oft gestellt. Als Doktorand an der TU München hat der Lebensmittelchemiker 500 Biere aus aller Welt analysiert. Darunter auch ein Bier der Lübbecker Privatbrauerei Barre, das aus dem späten 19. Jahrhundert stammt. Dieses wurde 1978 bei den Bauarbeiten in einem Lübbecker Geschäftshaus gefunden und konnte etwa auf das Jahr 1885 datiert werden. Die älteste Bierflasche Deutschlands war mit einem luftdichten Korken im Flaschenhals und zusätzlich mit Draht und rotem Wachs verschlossen. Dadurch und durch die Lagerung in einem kühlen und dunklen Keller hat sich der Inhalt erstaunlich gut gehalten. Im Zuge seiner Doktorarbeit hat Pieczonka diese ungewöhnliche Bierprobe bis ins Detail analysiert und mit Hilfe modernster instrumenteller Analyseverfahren ihr molekulares Profil identifiziert. Mit überraschendem Ergebnis: Die Studie zeigt, dass das älteste Bier Deutschlands in seiner Signatur in weiten Teilen modernen, industriell gebrauten Bieren gleicht.

Dr. Stefan Pieczonka

„Jeder Prozessschritt des Mälzens und Brauens, wie Würzeaufbereitung, Gärung, Filtration und Lagerung, hat einen spezifischen Einfluss auf das Bier“, erklärt Pieczonka. Im Rahmen seiner Studie hat er gemeinsam mit seinen Kollegen fast 500 Biere aus über 40 Ländern molekular analysiert und die Ergebnisse in einer Datenbank gesammelt. Durch einen Abgleich mit diesen Bier-Profilen konnte er so auch den „molekularen Fingerabdruck“ des historischen Bieres entschlüsseln. Dieser wiederum lässt Rückschlüsse auf die Brauweise zu. Bei dem fast 140 Jahre alten Bier aus der Kaiserzeit handelt es sich um ein untergärig gebrautes Bier, das einem heutigen Lagerbier entspricht. Dieser Herstellungsprozess erfordert Temperaturen von wenigen Grad Celsius – was ganzjährig nur mit Hilfe eines Kühlapparates möglich ist. Mit seiner Kältemaschine hatte der Erfinder und spätere Firmengründer Carl von Linde erst in den 1870er Jahren seinen Durchbruch.

Das älteste Bier Deutschlands schmeckt „erstaunlich gut“

Auch ergab die mikrobiologischen Analyse, dass die Probe keinerlei Mikroorganismen mehr enthielt. Sämtliche Hefebestandteile also waren aus dem Bier entfernt worden. Das bedeutet laut Pieczonka, dass es „unfassbar gut filtriert wurde“ – obwohl die Filtration im industriellen Maßstab erst wenige Jahre zuvor erfunden worden war. Auch haben die Lübbecker Brauer damals eindeutig nach dem Reinheitsgebot gebraut. Generell deutet die Zusammensetzung des historischen Bieres auf eine sehr moderne Art der Bierherstellung hin. Pieczonka wundert das kaum: „Das Brauwesen war in der Geschichte stets eine große Triebfeder für industriellen Fortschritt und Weiterentwicklung.“ Zum Beispiel auch in Sachen Kühlung: Die ersten Kühlapparaturen hat man entwickelt, um die Gärtanks während der Gärung des Bieres zu kühlen. Metaphorisch betrachtet könnte man also sagen: Den ersten Kühlschrank hat man erfunden, um Bier zu kühlen.

Doch wie schmeckt es denn nun „das älteste Bier Deutschlands“ aus der Kaiserzeit? „Erstaunlich gut“, lautet Pieczonkas sensorisches Urteil. Es habe eine dezentere Bitterkeit als heutige Pilsener, was aus der Oxidation der Hopfenbestandteile rühre. „Der Geschmack ist wirklich angenehm und ausgewogen.“ Auch vier Prozent Alkohol und ein Rest Kohlensäure seien noch enthalten. Als Abschluss seiner Doktorarbeit sei die molekulare Untersuchung dieses historischen Bieres natürlich „eine einmalige und herausragende Sache“ gewesen, betont Pieczonka. Genau wie bei den rund 500 anderen untersuchten Bieren war es durch die präzise Analysetechnik möglich, unfassbar tief in die molekulare Welt des Bieres einzutauchen – auf mehrere tausend bis zehntausend Moleküle genau. Oder wie er selbst augenzwinkernd zusammenfasst: „Wir haben so tief ins Bierglas geschaut, wie keiner zuvor.“

Mit Hilfe modernster Analyseverfahren konnte der „molekulare Fingerabdruck“ des historischen Bieres von 1885 entschlüsselt werden. Quelle: Pieczonka, S.A. et al. Archeochemistry reveals the first steps into modern industrial brewing. Sci Rep 12, 9251 (2022).

Mit Hilfe der Wissenschaft Brauprozesse optimieren

Und was hat das Brauwesen von diesen Erkenntnissen? Zum einen den wissenschaftlichen Beleg, dass das Bier im ewigen Wettstreit mit dem Wein die Nase vorn hat – zumindest was die Komplexität der Zusammensetzung angeht. „Bier ist auf der molekularen Ebene noch deutlich komplexer als Wein“, erklärt der Wissenschaftler. Das kommt durch die molekulare Vielfalt des Hopfens und durch die hochkomplexen Reaktionen während des Darr- und Röstprozesses. Darüber hinaus bilden die „molekularen Fingerabdrücke“ der analysierten Biere die Grundlage dafür, um weitere Prozessschritte zu verfolgen, zu kontrollieren und zu optimieren. Zwar könnten diese Erkenntnisse und Analyseverfahren der Lebensmittelüberwachung dienen, als „Bierpolizei“ will der Wissenschaftler sich und sein Team allerdings nicht verstanden wissen. Denkbar seien vielmehr Kooperationen mit Brauereien, um auf wissenschaftlicher Basis konkreten Fragestellungen nachzugehen. „Wir Wissenschaftler sitzen ja nicht im Elfenbeinturm. Die Fragen, die das Brauwesen betreffen, stellt uns am besten die Brauindustrie selbst.“

Schließlich habe die Brauwissenschaft eine Jahrhunderte lange Tradition an innovativen Ideen, von Pasteur über Linde bis Hansen. Pieczonka wünscht sich, „diesen Geist aufzunehmen und die noch offenen Fragen des Brauwesens mit einer umfassenden, holistischen molekularen Brille anzugehen.“ Denn der Wissenschaftler ist sich sicher: „Unsere Forschung hat quasi eine Tür aufgestoßen, hinter der es noch unglaublich viel Spannendes zu entdecken gibt“.

Über Stefan Pieczonka und seine Forschungsarbeit:

Dr. Stefan Pieczonka ist analytischer Lebensmittelchemiker an der TU München. Für seine Dissertation mit dem Titel „Umfassende Charakterisierung des Bier- und Braumetaboloms“ erhielt er nicht nur ein „Summa cum laude“, sondern darüber hinaus auch diverse Auszeichnungen und Preise. So bekam er Anfang 2023 den Silesia-Clemens Hanke-Promotionspreis und wenige Monate später den Wolfgang Paul-Promotionspreis der Deutschen Gesellschaft für Massenspektronomie. Auf dem Deutschen Brauertag im Juni verlieh ihm die Wissenschaftsförderung der Deutschen Brauwirtschaft den Heinrich-Funke-Pschorr-Forschungspreis. Der 29-Jährige bezeichnet sich selbst als „leidenschaftlichen Biertrinker“. Als „Herr über 500 Bierproben“ (von denen er jeweils nur einen tausendstel Tropfen für seine Forschungszwecke benötigte) war er in seiner Zeit als Doktorand ein gern gesehener Gast auf allen Sommer- und Weihnachtsfeiern. Wer mehr über Pieczonkas Forschung erfahren möchte: Seine Dissertation über das historische Bier ist für Interessierte frei zugänglich unter https://doi.org/10.1038/s41598-022-12943-6.

 

Titelbild: Die älteste – gefüllte – Bierflasche Deutschlands befindet sich im Lübbecker Brauereimuseum der Privatbrauerei Barre. / Foto: Privatbrauerei Barre